Heraklit: Leseprobe
Die folgenden Auszüge entsprechen der Auswahl der Quelltexte aus Karl
Vorländers "Geschichte der Philosophie". Wer näheres über
die Bedeutung der Fragmente erfahren möchte, dem sei Luciano de Crescenzo's
"Alles fliesst, sagt Heraklit" empfohlen. Das Buch enthält
neben einer hervorragenden und amüsanten Biographie des Philosophen
auch Kommentare zu seinen Fragmenten.
Von der Täuschung zur Wahrheit
a)Die Schlafenden
fr 1: Für der Lehre Sinn aber, wie er hier vorliegt, gewinnen die
Menschen nie ein Verständnis, weder ehe sie ihn vernommen noch sobald
sie ihn vernommen. Denn geschieht auch alles nach diesem Sinn, so gleichen
sie doch Unerprobten, so oft sie sich erproben an solchen Worten und Werken,
wie ich sie erörtere, nach seiner Natur ein jegliches zerlegend und
erklärend, wie es sich verhält. Den anderen Menschen aber bleibt
unbewusst, was sie nach dem Erwachen tun, so wie die das Bewusstsein verlieren
für das, was sie im Schlafe tun.
fr 73: Man soll nicht handeln und reden wie Schlafende.
fr 89: Die Wachenden haben eine einzige und gemeinsame Welt.
fr 107: Schlimme Zeugen sind den Menschen Augen und Ohren, sofern sie
Barbarenseelen haben.
fr 52: Die Lebenszeit ist ein Knabe, der spielt, hin und her die Brettsteine
setzt; Knabenregiment.
fr 70: Kinderspiele nannte er die menschlichen Meinungen.
b) Das Drängen nach dem Gemeinsamen
fr 144: Wenn man mit Verstand reden will, muss man sich stark machen mit
dem allen Gemeinsamen wie eine Stadt mit dem Gesetz und noch viel stärker.
Nähren sich doch alle menschlichen Gesetze von dem einen, göttlichen;
denn dieses gebietet, soweit es nur will, und reicht aus für alle
(und alles) und ist sogar noch darüber.
fr 2: Drum ist es Pflicht, dem Gemeinsamen zu folgen. Aber obschon der
Sinn gemeinsam ist, leben die Vielen, als hätten sie eine eigene Einsicht.
2. Ursache und Lehre des Werdens
fr 53: Krieg ist aller Dinge Vater, aller Dinge König. Die einen erweist
er als Götter, die anderen als Menschen, die einen macht er zu Sklaven,
die anderen zu Freien.
fr 80: Man soll aber wissen, dass der Krieg gemeinsam ist und das Recht
der Zwist und dass alles geschieht auf Grund von Zwist und Schuldigkeit.
fr 12: Denen, die in dieselben Flüsse hineinsteigen, strömen
andere und wieder andere Wasserfluten zu. Aber auch Seelen dünsten
aus dem Feuchten hervor (?).
fr 49a: In dieselben Flüsse steigen wir und steigen wir nicht,
wir sind und wir sind nicht.
fr 91: Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen.
3. Lehre von der Einheit der Gegensätze
fr 50: Haben sie nicht mich, sondern den Sinn vernommen, so ist es weise,
dem Sinn gemäss zu sagen, alles sei eins.
fr 51: Sie verstehen nicht, wie es auseinander getragen mit sich selbst
im Sinn zusammengeht: gegenstrebige Vereinigung wie die des Bogens und
der Leier.
fr 8: Das widereinander Strebende zusammengehend; aus dem auseinander
Gehenden die schönste Fügung.
fr 10: Verbindungen: Ganzes und Nichtganzes , Einträchtiges Zwieträchtiges,
Einklang Zwieklang, und aus Allem Eins und aus Einem Alles.
fr 62: Unsterbliche: Sterbliche, Sterbliche: Unsterbliche, denn das
Leben dieser ist der Tod jener und das Leben jener der Tod dieser.
fr 60: Der Weg hinauf und hinab ein und derselbe.
4. Das Urfeuer
fr 30: Diese Weltordnung, dieselbige für alle Wesen, schuf weder einer
der Götter, noch der Menschen, sondern sie war immerdar und ist und
wird sein ewig lebendiges Feuer, erglimmend nach Massen und erlöschend
nach Massen.
fr 64: Das Weltall aber steuert der Blitz.
fr 66: Denn alles wird das Feuer, herangekommen, richten und fassen.
fr 90: Wechselweiser Umsatz: des Alls gegen das Feuer und des Feuers
gegen das All, so wie der Waren gegen Gold und des Goldes gegen Waren.
5. Seelenlehre
fr 117: Hats ich ein Mann betrunken, so wird er von einem unerwachsenen
Knaben geführt, taumelnd, ohne zu merken, wohin er geht; denn feucht
ist seine Seele.
fr 118: Trockner Glast: weiseste und beste Seele oder vielmehr: Trockne
Seele weiseste und beste.
fr 45: Der Seele Grenzen kannst du im Gehen nicht ausfindig machen,
ob du jegliche Strasse abschrittest; so tiefen Sinn hat sie.
fr 119: Seine Eigenart ist dem Menschen sein Dämon.